Die Türkei-Stämmigen im Blickfeld der österreichischen Öffentlichkeit
| Adem Hüyük
In der österreichischen Öffentlichkeit wird die gesellschaftliche und politische Positionierung von Menschen mit türkischem Hintergrund häufig „zwischen zwei Welten“ verortet. Einerseits gibt es eine Gemeinschaft, die Teil der österreichischen Gesellschaft ist, arbeitet, Steuern zahlt und sich politisch sowie zivilgesellschaftlich engagiert; andererseits wird sie in außenpolitischen, migrations- und integrationspolitischen sowie sicherheitspolitischen Debatten oft als „die Anderen“ positioniert. Der Ausdruck „Türken auf der österreichischen Seite“ verweist genau auf diesen spannungsgeladenen Bereich.
Dabei ist auf eine sich beharrlich reproduzierende Form der Zuschreibung zu achten. Menschen mit türkischem Hintergrund werden häufig als homogenes „türkisches“ Kollektiv wahrgenommen; diese begriffliche Verdichtung öffnet jedoch zugleich den Raum für unterschiedliche Identitäten, die in der Türkei historisch unterdrückt oder unsichtbar gemacht wurden und sich nun auf nationaler und kultureller Ebene stärker artikulieren können.
Dieser Ansatz betrachtet die türkischstämmigen Österreicher nicht nur als Diaspora, die mit der Türkei in Verbindung steht, sondern als Akteure, die in den innerösterreichischen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen Stellung beziehen, agieren und sich als Subjekte behaupten. Es geht also nicht primär darum, wie „die Türkei-Stämmigen Österreich sehen“, sondern vielmehr darum, wo sie in den heimischen Debatten stehen, mit wem sie sich verbünden und um welche Werte sie sich gruppieren.
Zudem hinterfragt dieser Ansatz, wie sich türkischstämmige Individuen innerhalb klassischer politischer Achsen in Österreich – rechts–links, konservativ–liberal, Zentrum–Peripherie – positionieren. Auch wenn sie oft als homogene Masse präsentiert werden, spiegeln sich nahezu alle politischen und ideologischen Spaltungen der österreichischen Gesellschaft innerhalb dieser Gemeinschaft in differenzierter Form wider.
Kurdinnen und Kurden aus der Türkei, die die türkische Staatsbürgerschaft besitzen, verfolgen in Österreich einen vergleichsweise eigenen Integrationsweg; türkischstämmige Aleviten hingegen befinden sich auf einer weiter fortgeschrittenen Integrationsstufe, bedingt durch die ihnen zustehenden Rechte. Diese Positionierung ist jedoch kein einfacher Anpassungsprozess, sondern ein auf der Institutionalisierung religiöser Freiheit beruhender, innerlich paradoxaler Zyklus. In diesem Zusammenhang sind türkischstämmige Aleviten zu den strukturellen Trägern und Bewahrern der erworbenen religiösen Rechte geworden.
Die offizielle Anerkennung der alevitischen Religion durch den österreichischen Staat und die Möglichkeit, den Religionsunterricht allen interessierten Schüler*innen an öffentlichen Schulen anzubieten, stellt eines der umfassendsten und historisch bedeutsamsten Rechte dar, die türkischstämmige Menschen seit 1965 erlangt haben. Diese Entwicklung ist nicht nur eine Frage der Glaubensfreiheit, sondern auch ein Wendepunkt für öffentliche Anerkennung und gleichberechtigte Staatsbürgerschaft.
Doch die berechtigte Freude über erreichte Rechte bringt zugleich eine erhebliche Verantwortung mit sich. Kulturelle Vermischung zu fördern, kulturellen Verfall zu verhindern und kulturelle Strukturen ohne diskriminierende oder ausschließende Praktiken aufzubauen – und dabei die Werte der Aufnahmegesellschaft nicht zu ignorieren – ist zu einer quasi unumgänglichen Maxime geworden. Andernfalls droht die gesellschaftliche Legitimität der erworbenen Rechte untergraben zu werden.
Daraus folgt: Maßstab für echte Integration ist nicht nur das Vorhandensein erlangter Rechte, sondern auch, wie diese Rechte genutzt werden, auf welchem gesellschaftlichen Boden sie verankert sind und wie sie das gemeinsame Leben stärken. Rechte wirken nicht automatisch progressiv; sie werden fortschrittlich, wenn sie ohne Konflikte mit den Werten der Aufnahmegesellschaft, auf der Grundlage gegenseitigen Respekts und Verantwortungsbewusstseins, gelebt werden. Andernfalls verwandeln sich Rechte von einer befreienden Schwelle zu einem Instrument, das Identitäten fixiert und Gemeinschaften isoliert.
Eine solche Abschottung hemmt die Vertiefung der Integration; das Gefühl der „Anerkanntheit“ ersetzt den Kontakt zum gemeinsamen öffentlichen Raum. So verliert Freiheit ihre Rolle als Chance zur Stärkung des Zusammenlebens und wird zur Quelle neuer Spannungen und Paradoxien. Der Erfolg von Integration bemisst sich nicht nur daran, Rechte zu beanspruchen, sondern daran, ob diese Rechte mit einem Bewusstsein für gesellschaftliche Harmonie angewendet werden.
Echter Fortschritt liegt nicht im Komfort der Anerkennung, sondern im Mut, diese Anerkennung in Pluralität, Dialog und dem Willen zum gemeinsamen Leben fortzuführen. Andernfalls wird jeder erreichte Gewinn weniger zu einem Schritt nach vorn als zu einem sich im Kreis drehenden Zyklus.
Feudale Strukturen unter türkischstämmigen Österreicher*innen
Wenn man von feudalen Strukturen unter türkischstämmigen Österreicher*innen spricht, ist damit nicht das klassische Boden-Leibeigenen-Verhältnis gemeint, sondern soziale und kulturelle Bindungsformen, die mit der Migration übertragen wurden und sich unter den neuen Bedingungen transformiert fortsetzen. Trotz des Lebens in einem industrialisierten, rechtlich und institutionell modernen Staat, basieren einige soziale Beziehungen weiterhin stärker auf traditionellen Zugehörigkeitsnetzwerken als auf modernen Produktionsformen.
Diese feudalen Überreste werden besonders über Verwandtschaft, Herkunftsregion, Sippe und religiöse Gemeinschaft sichtbar. In Bereichen wie Arbeit, Wohnraum, Ehe, Handel oder politische Orientierung kann die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen entscheidender sein als individuelle Fähigkeiten oder soziale Stellung. Dies schränkt die im modernen Gesellschaftsmodell erwartete Individualisierung und autonome Entscheidungsfindung erheblich ein.
Der Migrationsprozess verstärkt diese Beziehungen häufig, statt sie abzubauen. Ausgrenzung, Unsicherheit und Identitätsdruck führen dazu, dass sich Gemeinschaften stärker an ihre internen Netzwerke klammern. Feudale Zugehörigkeitsstrukturen erfüllen somit einerseits eine Schutzfunktion, reproduzieren andererseits aber Hierarchie, Gehorsam und Loyalität.
Diese Strukturen wirken auch politisch. Wahlverhalten, Organisationsformen und Loyalität gegenüber Führungspersönlichkeiten türkischstämmiger Österreicher*innen orientieren sich häufig weniger an rationalen Programmen, sondern stärker an Gemeindeeinflüssen und Meinungsführern. Das führt dazu, dass Individuen weniger als politische Subjekte, sondern als Teil einer Gruppe agieren.
Insgesamt sind die beobachteten feudalen Strukturen unter türkischstämmigen Österreicher*innen nicht im Widerspruch zur modernen kapitalistischen Gesellschaft; sie formen sich vielmehr innerhalb dieser Gesellschaft unter den Bedingungen der Migration neu. Sie gehören weder vollständig der Vergangenheit an, noch sind sie gänzlich aufgelöst; vielmehr markieren sie eine hybride, widersprüchliche gesellschaftliche Realität zwischen Moderne und Tradition.| © Der Virgül
