Er hat von diesem Volk noch ein ‘Gehirn’ zu fordern!
| Yağmur Avcı
„Ich habe von diesem Volk noch ein Gehirn zu fordern!“
Dieser Satz, der aus dem Mund von Adem Hüyük fiel, war nicht nur ein Scherz, sondern fast eine Zusammenfassung seines Lebens.
Er widmete sein Leben dem Lesen, Schreiben und der Aufklärung dieser Gesellschaft. Ganz gleich, was andere sagten – er war das müde Gefäß eines Lebens, das im Namen seiner Überzeugungen gelebt wurde, und ein Gehirn, das dem nicht standhielt, aber von dem Punkt, an dem es zusammengebrochen war, wieder aufstand – sein eigenes „Finger großes Kind“, wie er es nannte.
„Von allen zu erwarten, dass sie mich und meine Gedanken lieben, widerspricht ohnehin meinen Überzeugungen. Hätte ich dieses Bedürfnis verspürt, gäbe es so etwas wie Glauben nicht mehr“, sagt er…
Als er zu Beginn dieses Jahres, während er an einem Artikel schrieb, plötzlich eine Hirnblutung erlitt, schien die Zeit stillzustehen. Wir alle fürchteten, dass wir die von seiner Feder geschaffene Welt nie wieder sehen würden. Als die Ärzte nach einer achtstündigen schweren Operation sagten, dass er sich ins Leben zurückgekämpft habe, erfüllte uns wieder ein Atemzug voller Hoffnung.
Als er erwachte, waren die ersten Worte, die über seine Lippen kamen, die reinste Beschreibung dessen, wer er war:
„Gebt mir mein Telefon, ich muss die Nachrichten sehen. Meine Leser machen sich Sorgen um mich, ich kann sie nicht ohne Nachrichten lassen.“
Heute habe ich ihn in Wien besucht…
Seine Haltung gegenüber dem Leben war etwas, das er mir schon als Kind beigebracht hatte. Er gab mir Bücher, aber er wollte nicht, dass ich nur las – ich sollte denken, hinterfragen. „Habe deine eigene Meinung“, sagte er. Deshalb, wenn ich ein einziges Wort wählen müsste, um seinen Einfluss auf mich zu beschreiben, wäre es „Wegweiser“.
„Virgül ist dir anvertraut“
Eines Tages sagte er zu mir: „Virgül ist dir anvertraut.“ In mir breitete sich Freude aus. Doch der zweite Teil des Satzes zerschmetterte diese Freude:
„Nach mir…“
Die Schwere dieser Worte lastete auf meinen Schultern. Doch das Leben erwischt einen manchmal unvorbereitet. Zum Glück mischte sich seine Stimme inzwischen wieder in heitere Gespräche.
Als wir in Wien gemeinsam über die Favoritenstraße gingen, über die er schon so oft geschrieben hatte, zeigte er auf Gesichter und erzählte ihre Geschichten. Für ihn war diese Straße „ein Ort, der nirgendwohin führt, aber alles erzählt“. Beim Zuhören verstand ich: Seine Feder war so echt wie die Schritte, die er auf dieser Straße setzte.
„Meine Gehirn-Schuld“
Während unseres Gesprächs stellte er sich auch selbst in Frage:
„Wenn ein Chefredakteur für alle erreichbar ist, verliert er seine Freiheit. Nach einer Nachricht kommen die Anrufe, man wird auf der Straße aufgehalten. Doch ein Chefredakteur sollte ein wenig unerreichbar sein. Ich habe den Fehler gemacht, zu bekannt zu sein. Du solltest diesen Fehler nicht machen.“
Er schwieg kurz und fügte dann lächelnd hinzu:
„Ich habe diesem Volk mein Gehirn gegeben. Eigentlich schulden sie mir ein Gehirn! Würde ich jetzt aufstehen und sagen: ‘Gebt mir zurück, das Gehirn, das ich für euch zerrissen habe’, würde das in keinen Kopf passen. Es wäre absurd. Aber jeden Tag erwarten sie Nachrichten. Sie sagen: ‘Haben wir dich darum gebeten?’, und doch wollen sie Nachrichten.“
In diesem Moment mischte sich unser Lachen unter die Menge von Favoriten. Ohne es zu merken, hatte ich vergessen, wie viele Runden wir über die Straße gegangen waren.
Über Künstliche Intelligenz
Ich möchte nicht versäumen, eine seiner Feststellungen über Künstliche Intelligenz zu erwähnen.
Seiner Meinung nach wird Künstliche Intelligenz sich selbst zerstören – so wie der Kapitalismus. Zuerst verstand ich den Vergleich mit dem Kapitalismus nicht.
„Der Kapitalismus schafft seine eigenen Widersprüche und geht schließlich an diesen zugrunde. Die Künstliche Intelligenz ebenso… Sie sammelt Wissen aus den Fragen der Menschen. Doch mit der Zeit werden Bücher, Artikel, Zeitungen nicht mehr gelesen. Die Menschen hören auf zu schreiben, zu produzieren, mit dem Hinweis: ‘Es liest ja ohnehin niemand’. Woher soll die KI dann ihr Wissen nehmen? Eigentlich wird hier nur sichtbar, dass es Diebstahl von Arbeit ist. Sie bereitet ihr eigenes Ende vor.“
Ohne es weiter auszudehnen, möchte ich mit den Worten von Adem Hüyük schließen: „Um der Künstlichen Intelligenz eine Frage stellen zu können, braucht man auch ein gewisses Maß an Intelligenz…“ | ©DerVirgül