Frauenfeindlichkeit in türkischsprachigen, Wien-zentrierten sozialen Medien
| Yağmur Avcı
In Österreich kursiert in den letzten Tagen in den sozialen Medien ein Beitrag, der Frauen mit der Behauptung beschuldigt, dass nicht Männer der Ehe aus dem Weg gingen, sondern im Gegenteil Frauen keine Ehe wollten. Der Beitrag behauptet, dass Frauen in Anatolien nicht heiraten wollten und dass dies die Zukunft des Landes bedrohe – und versucht damit, ein sexistisches Bild zu erzeugen.
Dem Text zufolge halten türkische Männer weiterhin an der Institution Ehe fest, während Frauen sich davon entfernen. Deshalb würden türkische Männer über soziale Medien Frauen aus verschiedenen Ländern – von Indonesien bis Lettland, von Russland bis Amerika – heiraten und durch diese Ehen eine ausländische Staatsbürgerschaft erhalten.
Ironischerweise zeigt jedoch ein Blick in einige Wien-zentrierte Facebook-Gruppen, dass ein Teil der Männer, die denselben Beitrag kommentieren, selbst über eine Ehe die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten hat. Mit anderen Worten: Ein großer Teil derjenigen, die unter dem Beitrag kommentieren, hat genau von der Situation profitiert, die sie kritisieren.
Dass die Person, die den Text teilt, versucht, ihre persönlichen Probleme als eine „gesellschaftliche Krise“ zu präsentieren, ist mehr als offensichtlich. Ihre psychologischen und sozialen Schwierigkeiten, die aus ihren subjektiven Lebensumständen resultieren, werden auf das gesamte Land projiziert und als ein Vorwand benutzt, um Frauen kollektiv Schuld zuzuschieben.
Der wohl auffälligste Abschnitt in dem in holprigem Türkisch verfassten Text lautet wie folgt:
„Der Türkische Mann hat sich nicht von der Ehe zurückgezogen… Es sind die Frauen, die sich zurückgezogen haben… Weil Mütter ihre Töchter als ‚Bankomaten‘ erzogen haben… Scham, Ehre, Anstand sind vorbei… Die Wirtschaft könnt ihr nicht als Ausrede benutzen… Warum heiraten denn die in Indonesien?“
Die Behauptung, dass Frauen als „finanzielle Attentäterinnen“ erzogen würden, steht weder im Einklang mit gesellschaftlicher Realität noch mit Daten. Um sein eigenes Gefühl der Zurückweisung zu verschleiern, hebt der Verfasser das Thema auf die Ebene einer angeblichen „Bedrohung der türkischen Existenz in Anatolien“ und verwandelt seine Wut auf Frauen in ein nationales Katastrophenszenario.
Im Schlussabschnitt beendet er den Text mit einer dramatischen Voraussage:
„Geschichtsbücher werden Folgendes schreiben: Ein Land, das nicht durch Kriege, sondern durch die Unersättlichkeit der Frauen zugrunde ging.“
Die Kommentare sind noch schlimmer
Die Kommentare unter diesem frauenfeindlichen Text, der von männlichen Profilen in Wien-zentrierten Facebook-Gruppen geteilt wird, zeigen, dass die Situation noch gefährlicher ist. Fast alle kommentierenden Männer unterstützen die sexistischen Behauptungen im Text, verwenden frauenverachtende Ausdrücke und radikalisieren ihren Hass in manchen Fällen sogar unter dem Deckmantel „Lösungsvorschläge“.
Haben Sie schon einmal von Frauen gehört, die Männer töten?
Österreich und die Türkei gehören laut Daten des Europarates und nationaler Statistiken zu den Ländern mit den höchsten Zahlen an Frauenmorden. Jedes Jahr werden Hunderte Frauen von den Männern getötet, die ihnen am nächsten stehen – oft mit Begründungen wie „Eifersucht“, „sie wollte sich trennen“, „Ungehorsam“ oder „sie wollte dem Ehedruck nicht nachgeben“. Angesichts dieser Realität muss man die Frage stellen: Haben Sie schon einmal von Frauen gehört, die Männer töten? Ja, es gibt Einzelfälle; aber von einem gesellschaftlichen Problem systematischer, frauengewaltiger Tötungen von Männern kann keine Rede sein – im Gegenteil: Es sind Frauen, die Opfer männlicher Gewalt werden.
Es gibt keinen „Trend“, dass Frauen Männer töten; aber die Gewalt von Männern gegen Frauen ist sowohl in der Türkei als auch in Österreich zu einem strukturellen Problem geworden, das jedes Jahr Dutzende Frauen das Leben kostet. In einem solchen Kontext Frauen der „Unersättlichkeit“, dem „Ende der Ehe“ oder der „Unterdrückung der Männer“ zu beschuldigen, verzerrt nicht nur die Realität, sondern verschleiert auch die Gewalt, die Frauen erleben, und trägt damit zur Fortsetzung dieses Kreislaufs bei.
Soll die Frau dem Mann gehören?
Die frauenfeindlichen Beiträge, die derzeit in sozialen Medien kursieren, versuchen, Veränderungen in der Ehe als „Krise“ darzustellen und schieben die Verantwortung einseitig den Frauen zu.
Dabei ist die grundlegende Frage folgende:
Soll die Frau wirklich dem Mann „gehören“?
Oder warum wird es in einer modernen Gesellschaft als Krise betrachtet, wenn die Lebensentscheidungen einer Frau sich nicht nach den Erwartungen eines Mannes richten?
Die Beiträge, die Frauen in letzter Zeit als „finanzielle Attentäterinnen“, „Verursacherinnen des Endes der Ehe“ oder „Kollektiv, das das Land zerstören wird“ diffamieren, speisen sich nicht aus gesellschaftlicher Realität, sondern aus individueller Wut, Zurückweisung und einem sexistischen Weltbild. Dass Frauen heute Bildung, Berufe, wirtschaftliche Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit über ihr Leben haben, wird von manchen Männern immer noch als Bedrohung wahrgenommen. Das ist kein gesellschaftlicher Verfall, sondern das Ergebnis von Denkweisen, die Gleichberechtigung nicht akzeptieren können.
Die Frau gehört nicht dem Mann – sie ist Subjekt ihres eigenen Lebens
Die Aufgabe der Frau ist es nicht, den Mann glücklich zu machen, und die Aufgabe des Mannes ist es nicht, die Frau zu besitzen.
In modernen Gesellschaften ist die Ehe eine freiwillige Partnerschaft zweier freier Individuen. Weder gehört die Frau dem Mann noch der Mann der Frau.
Die Frau für das Glück, den wirtschaftlichen Komfort oder den sozialen Status eines Mannes verantwortlich zu machen, ist ein primitives Verständnis, das nicht das Individuum, sondern das Geschlecht ins Zentrum der Schuldzuweisung stellt. Heute erhalten Frauen Bildung, arbeiten, sichern ihre eigene finanzielle Stabilität – das ist keine Bedrohung, sondern ein Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts.
Der Rückgang der Ehen hat soziale und ökonomische Gründe – nicht Frauen
Dass das Heiratsalter steigt und die Heiratsraten sinken, ist kein Phänomen, das nur die Türkei betrifft; es ist weltweit zu beobachten. Zu den Gründen gehören:
• wirtschaftliche Instabilität
• hohe Jugendarbeitslosigkeit
• steigende Wohnkosten
• veränderte Lebensstandards
• Individualisierung
• steigendes Bildungsniveau
Ein derart komplexes und vielschichtiges soziales Phänomen auf „Frauen wollen nicht heiraten“ zu reduzieren, ist weder wissenschaftlich noch redlich – es ist bewusste Manipulation.
Frauen anzugreifen ist keine Lösung – es ist Teil des Problems
Frauen zur Zielscheibe zu machen, erzeugt nur Hass; es stärkt weder den gesellschaftlichen Frieden noch die Institution Ehe. Frauen zu beschuldigen und sie dafür verantwortlich zu machen, „das Land zu zerstören“, ist der Versuch einer Person, ihre individuelle Enttäuschung als gesellschaftliches Problem darzustellen. Diese Aussage löst weder die wirtschaftlichen noch die emotionalen Schwierigkeiten von Männern; im Gegenteil, sie schafft ein neues Problem: die Legitimierung von Hass.
Die Wahrheit ist: Nicht die Frau braucht den Mann, sondern die Gesellschaft braucht Gleichberechtigung
Die Frage ist inzwischen klarer:
Soll die Frau dem Mann gehören?
Die Antwort ist in einer modernen Gesellschaft so eindeutig, dass man sie kaum diskutieren muss: Nein.
Dass Frauen als Individuen existieren, eigene Entscheidungen treffen und wirtschaftlich unabhängig sind, ist keine Bedrohung; es ist ein Zeichen gesellschaftlicher Entwicklung.
Die Ehe ist keine Eigentumsbeziehung, sondern eine Partnerschaft, die auf der freien Entscheidung beider Seiten beruht.
Jede Aussage, die diese Wahrheit leugnet, richtet sich nicht nur gegen Frauen, sondern auch gegen Gleichberechtigung. |© DerVirgül
