Weiße Türken und Gastarbeiter
| Adem Hüyük
Die Kinder des türkischen Bürgertums, die zum Studium nach Österreich kommen – oft als „Weiße Türken“ bezeichnet – sehen die hier lebenden 320.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund nicht als Teil der sozioökonomischen und soziokulturellen Struktur Österreichs, ja, sie blenden sie oft schlicht aus.
In den 2010er Jahren arbeitete ich rund eineinhalb Jahre im Rahmen eines Renovierungsprojekts an der Technischen Universität Wien [TU Wien]. Im Laborbereich war ich als Vorarbeiter tätig und arbeitete inoffiziell fast zwölf Stunden täglich. Da ich sehr gesprächig bin, hielten mich manche Studierende aus der Türkei zunächst für einen Universitätsdozenten. In Wahrheit war ich für die Installationen im Laboraufbau verantwortlich.
Meine Identität habe ich nie verborgen. Doch ich betonte oft, wie wichtig es sei, die Werke von Goethe, Nietzsche, Freud, Hegel, Marx und vielen anderen Philosophen im Original zu lesen. Denn Übersetzungen können sich nie völlig von den subjektiven Überzeugungen und Gefühlen der Übersetzer lösen. Entfernt man sich von der Originalsprache, entsteht eine Unklarheit – ähnlich wie bei den Debatten darüber, ob die Lehren des Sokrates tatsächlich von ihm stammen oder ob sie von seinem Schüler Platon niedergeschrieben wurden.
Studierende, die mir stundenlang über Hegels dialektische Methode zuhörten, wollten plötzlich nichts mehr über „These – Antithese – Synthese“ hören, sobald sie erfuhren, dass ich Arbeiter war. Denn hier ging es nicht um Wissen, sondern um Klasse und Status. Manche Studierende aus der Türkei hielten die „Gastarbeiter“ pauschal für ungebildet. Besonders der 10. Wiener Gemeindebezirk galt für sie als ein „Ghetto“, das man besser meidet.
Doch dieselben Menschen, die sich so überlegen gaben, erlebten oft selbst die gleiche Herabwürdigung – etwa durch einen gewöhnlichen österreichischen Kellner.
Ein in Der Virgül veröffentlichter Text von Ramazan Yaylalı zeigt dies deutlich: Ein Gastdozent der Universität Wien sitzt im MQ und bestellt. Der Kellner kommt schließlich mit einem spöttischen Lächeln und fragt: „Soll ich Ihnen eine Shisha und einen Kebab bringen? Passt doch gut bei diesem Wetter.“ Trotz seines kulturellen Kapitals und akademischen Status entkommt der Dozent dem Blick des „Anderen“ nicht – und wendet doch denselben Blick wieder auf die Migranten in Wien.
Bei einer Ausstellung trafen meine Freunde und ich notgedrungen auf Vertreter dieses Bürgertums. Schon ihre Blicke ließen uns das Gefühl ihrer klassenbedingten Überlegenheit spüren. Was wie individuelle Arroganz wirkt, ist in Wahrheit Ausdruck von Unterschieden in Bildung, kulturellem Kapital und sozialem Status.
Natürlich gab es Ausnahmen. Ich führte viele Gespräche mit Dozenten aus der Türkei – einige waren äußerst bescheiden, andere wiederum verhielten sich so von oben herab, dass es einem Wissenschaftler nicht würdig war. Herabgesetzt zu werden und als „ungebildet“ zu gelten, löste in mir stets den Drang aus, mein Gegenüber mit dessen eigenem Wissen zu konfrontieren. Vielleicht griff ich deshalb so leidenschaftlich zu Büchern.
Doch es gab noch eine andere Realität: Die schärfste Kritik erhielt ich von meinem eigenen Sohn, Deniz. Dreißig Jahre lang glaubte ich, bestimmte Wahrheiten zu kennen – oder sie zumindest analysiert zu haben. Doch er brachte mich dazu, vieles neu zu hinterfragen. Nachdem er von mir die Gewohnheit des philosophischen Denkens übernommen hatte, zog er eigene subjektive Schlüsse und begann, mich zu kritisieren. In Diskussionen mit Akademikern aus der Türkei stellte er ihnen schließlich die provokante Frage:
„In welcher Sprache können wir philosophisch diskutieren, außer auf Türkisch? Auf Französisch, Deutsch, Englisch – was meinen Sie? Und die Industrielle Revolution – sollen wir darüber auf Deutsch, Französisch oder Englisch sprechen?“
Mit solchen Fragen stellte er das Klassenbewusstsein jener in Frage, die die Gastarbeiter vorschnell als „ungebildet“ abstempelten.
Dieses kleine, aber bedeutende Erlebnis bei einer Ausstellung erinnert uns daran: Wir sollten unsere Erfolge nicht nutzen, um andere kleinzumachen, sondern um einander zu unterstützen. Doch wofür setzen wir unsere Errungenschaften tatsächlich ein? Um andere abzuwerten – oder um gemeinsam stärker zu werden?
Vergessen wir nicht: Wenn eine Gesellschaft in Unwissenheit gehalten wird, heißt das nicht, dass sie diese Unwissenheit akzeptiert. Keine Gemeinschaft will freiwillig ungebildet bleiben. Sobald sie sich dessen bewusst wird, hat sie bereits den ersten Schritt getan, um aus der Unwissenheit herauszutreten.| ©DerVirgül