In welche staatliche Tiefe werden wir ertrinken?
Die durch Neutralität aufgebaute Oberfläche Österreichs verbarg über Jahre hinweg einen Kampf im Schatten: einen Konflikt zwischen den roten und blau-schwarzen Tiefenstaaten. Unsichtbare Mächte bewegen sich leise innerhalb der staatlichen Institutionen und formen Entscheidungen jenseits der Regeln. In welchen Tiefen aber werden wir ertrinken?
Wird Österreich vom roten Tiefenstaat in einen blauen Tiefenstaat überführt?
Wenn ja – entspricht Blau bei uns einer Rückkehr in die Vergangenheit, oder wird es nach Eröffnung eines neuen Kapitels eine Wiedergutmachung über die Vergangenheit fordern und dadurch ein Echo finden?
Vielleicht begehe ich schon mit diesem Titel eine verfassungsrechtliche Straftat […] Wer weiß.
Österreich wurde 1955 nach dem Kampf der Sowjets gegen die nationalsozialistische Besatzung als neutraler Staat wiedererrichtet. Dies schuf sowohl für den westlichen als auch den östlichen Block ein attraktives Feld für Geheimdienstarbeit. Seither sind Berlin und Wien zwei Hauptstädte geworden, in denen Geheimdienste wie in einer Art Praxisfeld tätig wurden.
CIA und KGB sammelten Informationen über Bürokratie, Medien und Wirtschaft in Österreich. Daher formierten sich Diskussionen über einen Tiefenstaat in Österreich meist über äußere Einflussnahme und ideologische Durchdringung.
In den 1970er- und 1980er-Jahren behaupteten einige österreichische Zeitungen und politische Kommentatoren, dass bürokratische Gruppen, die mit der Sozialdemokratischen Partei Österreichs [SPÖ] verbunden waren, indirekt von den Sowjets beeinflusst worden sein könnten.
Dabei war es die Kommunistische Partei Österreichs [KPÖ], die eine Teilung Wiens wie in Berlin verhinderte und gute Beziehungen zur Sowjetunion hatte. Wäre die strategische Gegnerschaft der KPÖ gegenüber Stalin nicht gewesen, so wäre – wie in meinen Recherchen in sowjetischen Quellen ersichtlich – eine Mauer an der Grenze des Bezirks Favoriten begonnen und über die Gürtel-Hauptlinie bis zum AKH-Krankenhaus geführt worden. Dass die SPÖ eine Strömung wie den Austromarxismus vertrat, fand zwar Anerkennung in der Internationalen, doch wurde bei der Begriffsbestimmung betont, dass der Austromarxismus nicht im Gegensatz zum Leninismus stehe; während die SPÖ die Gültigkeit der Taktik des Abwartens hervorhob, wurde der auf Trotzki basierende Marxismus der KPÖ vom leninistischen Stalin ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr unterstützt.
Im Gegensatz zu Staaten wie der Sowjetunion und den USA, die langfristig ein geheimdienstliches Zentrum in Österreich etablieren wollten, trat Österreich – Erbe eines großen Imperiums und der politischen Tradition eines Diplomaten wie Klemens von Metternich – offiziell mit zwei Hauptgeheimdiensten auf.
Diese sind: BVT [Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung] – Schutz der Verfassung und Terrorismusbekämpfung.
HNA [Heeresnachrichtenamt] – militärischer Nachrichtendienst.
Über die Nachrichtendienste Österreichs, wie über die Institutionen, die die Nervenpunkte des Staates beherrschen, scheint zwar ein parteipolitischer Wettbewerb stattzufinden, doch in Wahrheit wird ein ideologischer Krieg geführt – und dieser Kampf um die Kontrolle der Nachrichtendienste hält zwischen SPÖ, ÖVP und FPÖ an.
Vor allem im Zeitraum nach der Zweiten Republik bis heute waren SPÖ und ÖVP jene Regierungsparteien, die das Land manchmal allein, meist jedoch in Koalition geführt haben. Nachdem die SPÖ nach 1970 eine gesetzliche Regelung im Nationalrat verabschiedet hatte, die der FPÖ den Weg öffnete, wurde die gegenseitige Abhängigkeit dieser beiden Parteien bis heute zunehmend aufgelöst.
Die 1889 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei [SDAP] existiert heute in der SPÖ weiter. Andererseits wurde die 1893 gegründete Christlichsoziale Partei [CSP] zur heutigen ÖVP.
Die Nachrichtendienste des Landes, das wechselweise von diesen beiden Parteien regiert wurde, waren ständig Konfliktfeld – und gemäß der Sicht rechter und rechtsextremer Kreise gewann die SPÖ diesen Konflikt und übernahm angeblich den Tiefenstaat.
Die Nachrichtendienste wurden in Diskussionen über den Tiefenstaat oft als geheime Mächte dargestellt, die jenseits der offiziellen Staatspolitik handeln.
Von einem roten Tiefenstaat wurde gesprochen, weil dies auf eine linke, kommunistische oder sozialistische Ideologie verweise.
Der Gedanke des roten Tiefenstaats hielt sich bis in die 2000er-Jahre, und rechte sowie rechtsextreme Kräfte brachten diesen Vorwurf ständig auf, indem sie die Verantwortung für angebliche Angriffe und rechtliche Maßnahmen gegen sie nicht den Verfassungsregeln, sondern diesem roten Tiefenstaat zuschrieben.
Die Dinge wurden jedoch im Jahr 2018 hörbar, als Martin Sellner vor dem Justizministerium jene Worte sprach… Vielleicht tobte dieser Kampf schon immer, und wir hörten ihn nur zum ersten Mal…
Bei jener Demonstration, bei der ich persönlich anwesend war und bei der die Identitäre Bewegung unter Beteiligung ihres damaligen Vorsitzenden Martin Sellner mit einem Banner die Türkische Botschaft attackierte, verwendete Sellner den Begriff „roter Staat“ und sagte: „Glaubt daran, dass das verschwinden wird; unsere Zeit kommt, und darauf müsst ihr euch vorbereiten…“
Woher nahm Martin Sellner diesen Mut trotz des roten Tiefenstaats?
Die Geschichte beginnt so…
Im Februar 2018 wurde unter der Führung des FPÖ-Innenministers Herbert Kickl, innerhalb der ÖVP-FPÖ-Koalitionsregierung, eine als Skandal bezeichnete Razzia gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung [BVT] durchgeführt.
Die Operation wurde von der Spezialeinheit zur Bekämpfung der Straßenkriminalität [EGS], einer Polizeieinheit, die mit FPÖ-Politikern in Verbindung gebracht wurde, durchgeführt. Als Grund wurden Vorwürfe genannt, dass einige BVT-Mitarbeiter geheime Informationen unrechtmäßig gespeichert und missbraucht hätten.
Das Oberlandesgericht Wien [OLG] entschied jedoch, dass die Razzia weitgehend rechtswidrig gewesen sei. Nach Ansicht des Gerichts hätten die verdächtigen Unterlagen auch durch offizielle Zusammenarbeit beschafft werden können, und die Razzia sei ein unverhältnismäßiger Eingriff gewesen. Zudem wurden bei der Razzia mehr als 40.000 GB Daten beschlagnahmt – was eine erhebliche Sicherheitslücke im Geheimdienst zur Folge hatte.
Durch diesen Schlag, der durchgeführt wurde, um Nachrichtendaten zu erlangen, wurden alle Beweise über „rechtsextreme“ Personen und Aktivitäten in der Datenbank des österreichischen Geheimdienstes in die Hände der FPÖ-Innenbehörde gebracht.
Nach dem Vorfall kamen Vorwürfe auf, dass der damalige Innenminister Kickl politisch in den Geheimdienst eingegriffen habe und die FPÖ ihren Einfluss über das BVT verstärken wollte; sein Rücktritt wurde gefordert. Dass das Innenministerium eines Landes eine Operation gegen seinen eigenen Geheimdienst durchführt, um bestimmte Daten zu erlangen und zu vernichten, wurde als beispielloser Vorgang in der österreichischen Geschichte vermerkt.
Die Razzia hatte auch internationale Auswirkungen. Länder wie die USA und Deutschland setzten die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den österreichischen Geheimdiensten aus. Wegen der Beziehungen der FPÖ zu rechtsextremen Gruppen entstanden ernsthafte Zweifel an der Sicherheit sensibler Informationen beim BVT.
Die damaligen Erklärungen der beteiligten Seiten bestätigten diese Sorge; doch all diese Ereignisse sind heute sowohl in der österreichischen Öffentlichkeit als auch bei Migranten fast vergessen.
Warum bringt Der Virgül dieses Thema erneut auf die Tagesordnung?
Der österreichische Staat ist keine Republik, die auf der Vorherrschaft einer ethnischen Gruppe gegründet ist. Ebenso beruht dieses Land, das sich auf die Idee der „Österreicher“ stützt, nicht auf ethnischer Herkunft, sondern auf gemeinsamen Werten.
Aus wissenschaftlicher Sicht ergibt es in Österreich keinen Sinn, eine „überlegene Rasse“ irgendeiner ethnischen Gruppe zu behaupten. Trotzdem können politische Formationen wie die FPÖ aus der Perspektive eines ererbten Nationalismus Politik über abstrakte Begriffe wie „Österreicher“ oder „österreichische Tradition“ betreiben. Andernfalls müsste aufgrund der gemeinsamen Sprache Deutsch mit Deutschland der Begriff „deutsche Rasse“, also germanische Herkunft, anerkannt werden, was jedoch im ganzen Land nicht akzeptiert wird.
Ja, die Österreicher sind im Grundsatz germanischer Herkunft, ihre Sprache ist Deutsch und ihre kulturellen und historischen Bindungen bestehen mit den germanischen Völkern Mitteleuropas. Doch das heutige Österreich besitzt eine multikulturelle Struktur: Slawen, Ungarn, Türken und viele andere ethnische Gruppen leben in diesem Land. Daher ist Österreich eine föderale Republik.
Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass Österreich jede Migrationswelle mit humanistischer Emotionalität grenzenlos aufnehmen wird. Der Staat zeigt im Rahmen subjektiver Bedingungen und unter Berücksichtigung universeller Menschenrechte nur so viel Akzeptanz, wie er für ausreichend und notwendig hält.
Wenn heute in Österreich über irgendeine Frage entschieden wird und diese verfassungsrechtlich dem Volk vorgelegt werden muss, dann soll sie den Österreichern vorgelegt werden. Gegen populistische Parteien, die im Namen der Österreicher populistische Politik betreiben und das Volk manipulieren – gerade rechte –, ist bewussteres Handeln denn je erforderlich. Ich möchte euch die berühmte anatolische Geschichte von der „gelben Kuh“ nicht in Erinnerung rufen…
Wenn die institutionelle Erinnerung schwach wird, kehren dieselben Risiken zurück
Die BVT-Razzia 2018 war nicht nur eine juristische Debatte, sondern ein konkretes Beispiel dafür, wie der Staatsapparat Österreichs politischer Machtkämpfe ausgesetzt werden kann. Obwohl dieses Ereignis heute fast vergessen ist, bringt die Möglichkeit, dass dieselben Akteure wieder an die Macht kommen, die Gefahr mit sich, dass staatliche Institutionen erneut ähnlichen Eingriffen ausgesetzt werden.
Daher handelt es sich nicht um eine politische Krise der Vergangenheit, sondern um die Unabhängigkeit demokratischer Institutionen Österreichs, den Schutz der Sicherheitsstruktur vor politischem Einfluss und das Zusammenleben einer multikulturellen Gesellschaft auf rechtlicher Grundlage.
Wenn der sogenannte rote oder blaue Tiefenstaat, der alle von mir auf Türkisch verfassten Artikel verfolgt, sich mir gegenüber ohne Farbe zeigt und möglicherweise eine ideologische Organisation hinter meinen Artikeln vermutet, dann verliert die Farbe des Tiefenstaats für mich jede Bedeutung.
Wäre ich Österreicher, würden sie mir diese Frage vermutlich nicht stellen. Was sie in Zweifel zieht, ist das Maß an Wissen über die politische Geschichte Österreichs… Für sie kann dies nur durch eine besondere Ausbildung gelernt worden sein…
Vor 28 Jahren gab ich den österreichischen Sicherheitsbehörden folgende Information: „Ich habe ein kleines zweisprachiges Wörterbuch auf gelbem Grund. Mit diesem Wörterbuch habe ich in einer österreichischen Bibliothek ein Buch über die Geschichte Österreichs in sechs Monaten übersetzt und gelesen“, sagte ich. Der Bibliotheksverantwortliche ist Zeuge. Sie glaubten mir damals nicht und sagten: „Du sprichst Deutsch wie wir“, und hegten Verdacht. Dabei konnte ich tatsächlich kein Deutsch.
Heute wiederhole ich es: Seit meiner Hirnblutung vor elf Monaten halten mich die Ärzte nicht nur für einen sehr glücklichen Menschen, sondern ich habe durch die Operation Beeinträchtigungen erlitten, die zu einem Verlust in meinen Fremdsprachenkenntnissen geführt haben. Ich bin sozusagen wieder bei meinem kleinen gelben Wörterbuch angekommen.
Dass Der Virgül dieses Thema wieder aufgreift, ist genau aus diesem Grund wichtig; denn er selbst ist direkt mit dieser Bedrohung konfrontiert.
Ich bin es leid, von offiziellen Stellen befragt zu werden – ich bin es leid…
Die Rede eines Journalisten, der vor sechs Jahren einen Preis erhielt, im österreichischen Parlament werde ich nie vergessen. Der Journalist wandte sich an den damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz:
„Wir sind nicht die Freunde irgendeines Politikers… Aber wir sind auch nicht ihre Feinde… Wir sind Journalisten… Lassen Sie uns unsere Arbeit machen…“
Ich, Adem Hüyük, und alle Autoren bei Virgül sehen es als prinzipielle Aufgabe, zu jedem politischen Lager Abstand zu halten. Wie ihr bemerkt, bemühen wir uns, mit niemandem im selben Foto aufzutreten – nur um nicht als parteiisch zu gelten.
Wir sprechen mit jedem, betreten jede Institution, nehmen Kontakt mit jedem Politiker oder Diplomaten auf; wir sprechen mit Unternehmern über die Wirtschaft. Selbst dem Unwissenden, der uns aufhält, versuchen wir beizubringen, dass sein Verhalten falsch ist, nur damit er nicht angreift. Wir können niemandem Schaden zufügen – selbst nicht zur Verteidigung…
Die Gerüchte über die Mächte, die angeblich hinter Der Virgül stehen, habt ihr vielleicht auch schon gehört. Manche Kreise versuchen, uns mit dem türkischen Geheimdienst zu verbinden, andere mit dem österreichischen.
Was wir an solchen Personen nicht verstehen, ist Folgendes: Warum versucht man, uns unbedingt jemandem zuzuordnen? Glaubt man, dass wir diese Arbeit nicht leisten können, ohne dass jemand im Hintergrund steht?
Unserer Ansicht nach handelt es sich dabei um einen inneren Zustand der betreffenden Personen. Manche Menschen können nicht akzeptieren, dass andere das schaffen, was sie selbst nicht geschafft haben, und verstecken ihre eigene Unfähigkeit, indem sie der Wahrheit widersprechen und sie zu leugnen versuchen…
Einige Prozesse können nur dann im Namen der Demokratie geschützt werden, wenn sie in Erinnerung bleiben. Wenn das gesellschaftliche Gedächtnis schwach wird und Eingriffe in Institutionen zur Normalität werden, richten sich die nächsten Schritte gegen den individuellen Bereich. Und in diesem Moment werden Sie vielleicht nicht einmal bemerken, warum Sie sich verteidigen müssen.
Vergessen Sie daher nie, dass der Versuch, nur für sich selbst zu leben, niemals absolute Sicherheit bietet. In jedem Moment, in dem Sie sich von gesellschaftlicher Sensibilität entfernen, vergessen Sie nicht, dass nicht die Körper, sondern das Gewissen der eigentliche Erzieher ist – und dass es Ihnen eines Tages die Strafe erinnern wird, über die es verfügt. | ©Der Virgül