Türkisch zu sprechen in Wien ist nicht nur eine Sprache – es ist Widerstand!
Über den Unterschied zwischen der Stille in einer Straßenbahnfahrt und den lauter werdenden Vorurteilen…
Die größte Migrantinnengruppe in Österreich sind – entgegen vieler Erwartungen – deutsche Staatsbürgerinnen. Doch der Zuzug eines Deutschen nach Österreich unterscheidet sich fundamental vom Zuzug eines Türken oder einer Syrerin. Für den Deutschen ist es nur ein Ortswechsel. So wie ein Umzug von München nach Salzburg. Gemeinsame Sprache, ähnliche Geschichte, beinahe identischer Lebensstil. Keine Entfremdung, keine Notwendigkeit kultureller Anpassung.
Für einen Türken ist diese Migration jedoch das Ergebnis von Armut und Ausweglosigkeit. Eine Realität, die durch strukturelle Ungleichheiten nach außen gedrängt wurde. Für eine Syrerin ist diese Reise noch erschütternder: eine Flucht aus Lebensnot.
Dieser Unterschied zeigt sich nicht nur in Dokumenten, Statistiken oder politischen Debatten – er lebt auch in den Köpfen und Handlungen der Menschen weiter. Und manchmal tritt dieser Unterschied in unerwarteten Momenten ganz deutlich hervor.
Vor etwa vier Jahren habe ich mit meinen Söhnen ein kleines soziales Experiment in den Wiener Straßenbahnen durchgeführt.
Beide sprechen fließend Englisch und grundlegendes Französisch. Auf verschiedenen Linien sprachen sie laut zuerst Englisch, dann Französisch. Niemand hat sich umgedreht. Aber auf der dritten Linie, als sie in derselben Lautstärke Türkisch sprachen, richteten sich sofort alle Blicke auf uns. Die Unbehaglichkeit war spürbar, die Reaktion deutlich sichtbar.
Dabei hatte sich nur die Sprache geändert, nicht der Inhalt der Worte.
Dieses Erlebnis hat mir erneut gezeigt: Sprache ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation. Sie ist auch Identität. Eine Wurzel, ein Klassenmerkmal. Menschen beurteilen einander nicht nur nach dem Gesagten, sondern nach der Sprache, in der es gesagt wird. Ein Kind, das Englisch spricht, gilt als “anders, aber integrierbar”. Ein Kind, das Türkisch spricht, wird automatisch als “fremd”, ja sogar als “störend” wahrgenommen.
Das zeigt, dass Integrationspolitik nicht nur technisch, sondern auch auf psychologischer und kultureller Ebene erfolgen muss. Eine Sprache kann einen Menschen unsichtbar machen – oder unfreiwillig zur Zielscheibe. Diese subtile Form der Diskriminierung führt bei Menschen mit Migrationshintergrund zu einem tiefen Gefühl der Nichtzugehörigkeit. Dieses Gefühl wiederum führt langfristig zu Rückzug und Entfremdung.
Für Menschen mit türkischem Hintergrund ist dieser Prozess besonders komplex. Die erste Generation kam nach Österreich nur zum Arbeiten. Im Kopf stets der Gedanke an eine baldige Rückkehr. Dieses Gefühl der Vorläufigkeit machte das Erlernen der deutschen Sprache unwichtig. Der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung blieb begrenzt, das Leben spielte sich isoliert in ethnischen Gemeinschaften ab. Schließlich würde man bald zurückkehren […] Doch das geschah nicht.
Die zweite Generation wiederum stand vor einem anderen Dilemma: Sie lernte Deutsch, war Teil des Schulsystems, doch gleichzeitig erlebte sie, wie ihr Vater in einer Sprache beschimpft wurde, die er nicht verstand. Das schuf eine verletzte Distanz zur Mehrheitsgesellschaft. Eine Generation entstand, die weder ganz drinnen noch draußen war.
Aus dem Erbe dieser ersten und zweiten Generation ist eine Gesellschaft mit “Zwischenkultur” entstanden.
Menschen mit türkischen Wurzeln in Österreich gelten oft als traditionsgebunden, als abgeschottete Gemeinschaft. Prunk, Nationalstolz, starke religiöse Bindung… Diese Eigenschaften werden häufig als „Integrationsverweigerung“ interpretiert. Doch dahinter steckt meist ein Gefühl der Ablehnung, der Ausgrenzung – eine Abwehrhaltung gegen das Nicht-Akzeptiertwerden.
Wer sich nicht angenommen fühlt, macht sich lauter bemerkbar. Er klammert sich stärker an das, was ihm Identität gibt: Sprache, Fahne, Tradition… Migration ist daher nicht nur ein geographischer Wechsel – sondern auch eine Verletzung der Identität.
Diese Beobachtung, die mit einer Straßenbahnfahrt begann, hat mich mit dieser Realität konfrontiert. Ich habe erkannt: Türkisch ist auf Wiens Straßen nicht nur ein Laut – es ist Identität und Projektionsfläche zugleich.
Und ich habe verstanden, dass der wichtigste Ort für Integration der menschliche Geist ist.
Eine Leserin stellte mir folgende Frage: „Ich weiß, dass Sie viel über Zugehörigkeit schreiben. Aber wo fühlen Sie sich selbst zugehörig?“
Meine Antwort wird lange dauern. Denn diese Frage fragt nicht nur nach einem „Ort“ – sie fragt auch nach der „Stelle der Wunde“. Zugehörigkeit kann manchmal ein Land bedeuten, eine Sprache, eine Straße – oder nur ein einziger Moment. Und manchmal bedeutet sie auch, sich mit nichts und niemandem wirklich verbunden zu fühlen.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich mir diese Frage stelle. Es ist eine, die seit Jahren in mir kreist: Wo gehöre ich hin?
In das Land meiner Geburt? In das Land, dessen Sprache ich mit Akzent spreche? Oder zu den stillen Momenten auf den Straßen, die mich bei jedem Schritt an meine Fremdheit erinnern?
In meinem nächsten Text werde ich versuchen, über diese Frage zu schreiben…
Auf Wiens Straßen wehen nicht nur Fahnen – auch Sprachen, Identitäten und Erinnerungen kämpfen dort um Sichtbarkeit. [©Foto: Der Virgül]