Überschätzen Sie Politiker und Diplomaten nicht!
Durch meine Arbeit habe ich zwangsläufig am häufigsten mit Politikern und Diplomaten zu tun.
Denn es sind genau diese Kreise, durch deren Hände Gesetze gehen – Gesetzgebung, Exekutive, und Entscheidungen, die das Leben jeder einzelnen Person betreffen. Sie stehen im Zentrum der gesellschaftlichen Ordnung, der internationalen Beziehungen, der Krisen und auch ihrer Lösung. Doch allein ihre Position im Zentrum macht sie nicht automatisch wissender, gewissenhafter oder kompetenter.
Wie ich auch in meinem demnächst erscheinenden Buch ausführlich schildere, haben mir meine Erfahrungen eines immer wieder gezeigt: Titel sind oft leere Hüllen. Die Bedeutung, die wir ihnen beimessen, können sie selbst nicht tragen. Viele, die uns als Politiker oder Diplomaten gegenübertreten, haben kein Gespür für die Verantwortung, die sie eigentlich tragen – ihre Visionen reichen oft nicht über den Schreibtisch ihres Amtes hinaus. Deshalb führen zu hohe Erwartungen meist nur zu größerer Enttäuschung.
Natürlich heißt das nicht, dass man keinen Respekt haben sollte. Aber Respekt darf nicht das kritische Denken zum Schweigen bringen. Sonst werden wir von den überhöhten Bildern, die wir selbst geschaffen haben, immer wieder getäuscht.
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre arbeitete ich vier Jahre lang in einer Fabrik, die Rolltreppen herstellte. Diese Zeit lehrte mich viel über Arbeitsdisziplin – und noch mehr über die menschliche Natur.
Die meisten Arbeiter dort waren aus der Türkei. Unsere Gespräche in der Mittagspause begannen oft mit der Türkei und reichten bis zu den sozialen Strukturen Österreichs, meist anhand der Preise in Billigsupermärkten.
Einmal erzählte mir ein Kollege – ein ehemaliger Unteroffizier – eine Geschichte aus seiner Wehrzeit: Er habe einen größeren und kräftigeren Soldaten verprügelt – nicht aus Notwehr, sondern weil er sich minderwertig fühlte und seine kleine militärische Autorität als Vorwand nutzte.
Da begriff ich: Für manche ist Macht ein sicherer Raum, um ihre eigene Dunkelheit zu legitimieren. Amtstitel sind nicht immer Instrumente der Gerechtigkeit – manchmal sind sie nur ein Deckmantel für Rachegelüste.
Nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei begegnete ich Abgeordneten der AKP in Wien. Während in der Türkei Tausende starben und Hunderttausende noch Hilfe benötigten, hielten sie ein Treffen im Lokal von MÜSIAD Österreich ab – ich war als Pressevertreter eingeladen.
Die zynischen Äußerungen einiger AKP-Abgeordneten ekelten nur eine Handvoll Anwesende an.
Ein Abgeordneter sagte:
„Nach dem Erdbeben waren Reiche und Arme gleich. Der Reiche konnte kein Geld abheben, es gab nichts zu kaufen. Allah hat eine Lektion erteilt – alle haben verstanden, dass sie gleich sind.“
Mit religiösem Zuckerguss versuchten sie zu kaschieren, dass ihre Regierung im Katastrophenfall niemandem helfen konnte – weder dem Reichen noch dem Armen.
Ein anderer Abgeordneter, vor dem damaligen Botschafter Ozan Ceyhun und UID-Präsident Mahmut Koç, wiederholte eine menschenverachtende, widerliche Aussage, die ich bereits früher zitiert hatte. Der Raum gefror vor Scham.
Ein anderes Mal, bei einer Veranstaltung des Giresun-Vereins, trat der stellvertretende Parteivorsitzende der AKP auf. Die Wahlen standen bevor. Die Themen: Terrorbekämpfung, Kampfdrohnen, Autos aus eigener Produktion. Als ein Bürger jedoch nach der Inflation fragte, lenkte man sofort wieder zur Terrorbekämpfung um.
Ich stellte eine Frage zum Leistungsbilanzdefizit – warum es in diesem Jahr größer war als im Vorjahr. Der Abgeordnete aus Sakarya verstand die Frage nicht. Ich musste ihm das Wort „Leistungsbilanzdefizit“ Silbe für Silbe erklären. Selbst das half nicht.
Dem CHP-Abgeordneten aus Ordu stellte ich folgende Frage:
„Tun Sie etwas gegen die feindselige Haltung gegenüber Auslandstürken, die sich jeden Sommer in der Türkei breitmacht?“
Bevor der Abgeordnete antworten konnte, sprangen Vereinsmitglieder ein:
„Wir haben so eine Feindseligkeit nicht erlebt!“
Ich entgegnete: „Ihr Problem ist nicht die Frage – es ist euer Groll gegen Der Virgül. Lasst doch den Abgeordneten selbst antworten.“
Was dann geschah? Der Abgeordnete nutzte den Rückenwind des Vereins, um die Frage zu manipulieren und sie zu Propagandazwecken zu verzerren. Eine echte Antwort hatte er nicht.
Ein CHP-Abgeordneter war zu Besuch beim Alevitischen Kulturverein in St. Pölten. Er kritisierte das multilaterale Übereinkommen von 2011 zur gegenseitigen Amtshilfe in Steuersachen, das auch die Türkei unterzeichnet hatte. Dieses erlaubt den Austausch von Steuerdaten zwischen Ländern – auch zwischen Österreich und der Türkei.
Ich fragte:
„Sie kritisieren dieses Abkommen. Aber wie stehen Sie dazu, dass manche Menschen in Österreich Sozialhilfe beziehen, obwohl sie in der Türkei Eigentum und Ersparnisse haben? Betrügen diese Menschen nicht Österreich? Und schlagen Sie vor, deren Daten geheim zu halten?“
Der Abgeordnete verstummte.
Und jetzt zu den Abgeordneten mit österreichischem Antlitz…
Die zwei Abgeordneten, die bisher auf meine Fragen am direktesten und sachlichsten reagierten, waren:
Nurten Yılmaz von der SPÖ und Berivan Aslan von den Grünen.
Doch auch bei ihnen erhielt ich nicht auf alle Fragen zufriedenstellende Antworten.
Ich sage das nicht aus Arroganz, sondern aus journalistischer Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit. Denn meine Fragen waren nicht nur meine – sie waren die Stimme von Hunderttausenden in diesem Land.
Wenn Politiker gegenüber Wissen, Verantwortung und Kritik auf Distanz gehen, ist das nicht nur ein persönliches Defizit – es ist eine Unterlassungssünde gegenüber der Gesellschaft, die sie vertreten sollen.
Einmal musste ich einem SPÖ-Abgeordneten die Geschichte und Grundprinzipien der Sozialdemokratie erklären.
Stellen Sie sich das vor! Ein Abgeordneter, der mit seiner eigenen Ideologie nichts mehr anfangen kann…
Dinge, die sie eigentlich längst verinnerlicht haben sollten, müssen wir ihnen wieder ins Gedächtnis rufen.
Denn statt Wissen zählen heute nur Positionen. Statt Prinzipien – nur noch Inszenierung.
Sie verwechseln Repräsentation mit Symbolik.
Und ja – sie treten auf euch, weil ihr ihnen zu viel Bedeutung beimesst.
Weil ihr eure Köpfe unter ihre Füße legt, glauben sie, sie könnten auf euch stehen.
Sie halten es für ihr Recht, euch keine Termine zu geben, Fragen oberflächlich abzutun und euch keine Rechenschaft schuldig zu sein – obwohl ihr sie gewählt habt.
Schweigt ihr, reden sie lauter. Und je länger ihr schweigt, desto mehr sprechen andere in eurem Namen.
Doch leider sind jene, die am lautesten sprechen, nicht immer eure wahren Vertreter.
Merkt euch: Kein Sitz ist heilig, kein Abgeordneter unantastbar.
Überschätzt sie nicht. Nur so müsst ihr sie nicht mehr auf euren Schultern tragen.