Von „Lieb es oder verlass es“ bis zum Dank an Öcalan
Dass Devlet Bahçeli, der als Vorsitzender der nationalistisch-konservativen MHP über Jahre hinweg Abdullah Öcalan als „Terroristenführer“ bezeichnete, ihm nun dankt, ist nicht nur ein politisches Manöver. Es ist zugleich ein markanter Bruch im philosophischen Sinne – eine Situation, in der ein Prinzip einem Zweck geopfert wird. Dieser Wandel ist ein Zeichen für eine tiefgreifende Veränderung in den politischen Dynamiken der Türkei, möglicherweise sogar für eine ideologische Konfrontation.
Nach Niccolò Machiavelli ist für den Erhalt der Macht und der Staatsräson moralische Konsistenz irrelevant. Bahçelis Haltung lässt sich in dieser Linie als ein Beispiel politischen Pragmatismus deuten: Um ein höheres Ziel wie „Frieden und Ordnung“ zu erreichen, nimmt er in Kauf, einer jahrelang verteufelten Figur zu danken. Es zählt nicht das Prinzip, sondern das Ergebnis.
Dieser Dank kann auch als ein Moment historischer Synthese zwischen einst gegensätzlichen Figuren gelesen werden. In Anlehnung an Hegels Verständnis der Geschichte als Fortschritt durch Widersprüche könnte man sagen, dass der Konflikt zwischen türkischem Nationalismus und kurdischem Freiheitskampf – wenn auch nur vorübergehend – eine „Synthese“ erreicht hat. Diese Synthese ist nicht die Lösung selbst, aber sie schafft einen Boden für Lösungen.
Bahçelis Dank an Öcalan zeigt, dass ideologische Werte, die als heilig und unverrückbar galten, mit der Zeit flexibler werden oder sich sogar ins Gegenteil verkehren können. Dies erinnert an Nietzsches Analyse der Genealogie der Moral: Was einst als das absolut Böse galt, kann heute als Friedensstifter neu kodiert werden. Werte werden in historischen und politischen Kontexten stets neu konstruiert.
Bahçelis Haltung ist vielleicht weniger Ausdruck eines bewussten Wandels als vielmehr Ergebnis politischer Notwendigkeit. Dennoch weist sie Parallelen zu Emmanuel Levinas’ Idee der „Begegnung mit dem Anderen“ auf: Den Feind nicht mehr nur als solchen zu sehen, sondern ihn zu vermenschlichen und ihm eine Stimme zu geben. Das bedeutet, Gewalt durch Politik zu ersetzen.
Hannah Arendt zufolge ist jede Handlung ein Neuanfang, und echter Wandel in der Politik ist nur durch unvorhersehbare neue Handlungen möglich. Bahçelis Aussage ist innerhalb der MHP-Tradition ein solcher Neuanfang – einer, der vorher unvorstellbar gewesen wäre. Das wirft ein Licht auf die Unvorhersehbarkeit und kreative Kraft politischer Handlungen.
Seit ich Ende 1992 mit außerparlamentarischer Politik in der Türkei in Berührung kam, habe ich erkannt: Ohne objektiven Blick führt Politik oft nur zu ideologischer Verblendung oder obsessiver Verteidigungshaltung. Vom 1993 gelesenen Buch APO und die PKK von Mehmet Ali Birand bis zu den in der Türkei verbotenen İmralı-Notizen habe ich verstanden: Der Führerkult, die Überhöhung der Geschichte, die Ideologisierung eines „heiligen Anliegens“ – das alles ist letztlich der Organisation selbst heilig. Und ebenso ist die Verklärung des Staates oft nichts anderes als die Unantastbarkeit ökonomischer Macht. Der „Glaube an den Staat“ – diese abstrakte Vernunft – kann dich heute zum Hassen bringen, was du morgen lieben sollst. Und dabei raubt sie dir auch noch die Fähigkeit zur Kritik.
In diesem Sinne ist Bahçelis Dank an Öcalan ein Moment, in dem Gegensätze wie „Wert und Nutzen“, „Feind und Verhandlung“, „Prinzip und Opportunität“ dramatisch ineinander übergehen. Es zeigt, dass die türkische Politik nicht nur taktisch, sondern auch durch ethische und historische Brüche voranschreitet.
Einst hallte auf Wahlkampfplätzen ein Slogan wider: „Lieb es oder verlass es!“ Es war das Wandtattoo des Nationalismus – die Zusammenfassung der bedingungslosen Loyalität zum Regime. Damals war Abdullah Öcalan allein unter dem Etikett „Babymörder“ bekannt, und jede Bezugnahme auf ihn wurde als Hochverrat abgestempelt.
In den Jahren danach hat sich in der türkischen Politik viel verändert. Doch dass Devlet Bahçeli nach der angekündigten Auflösung der PKK Abdullah Öcalan dankt, ist ein Wandel, der sich kaum in das Gedächtnis oder die soziologische Ordnung der Politik einfügt. Es ist nicht nur ein taktischer Zug, sondern auch ein Zeichen dafür, dass Begriffe wie „Staatsräson“, „Sicherheit“, „Allianz“ und „nationale Einheit“ neu definiert werden.
Vielleicht ist dieser Dank kein ideologischer Zusammenbruch, sondern der erste Satz einer überfälligen Auseinandersetzung. Vielleicht erkennen Bahçeli und andere politische Akteure inzwischen, dass der über vierzig Jahre andauernde Krieg weder dem Staat noch der Gesellschaft etwas gebracht hat – sondern alle Seiten innerlich ausgezehrt hat. Wenn die Waffe keine Lösung mehr ist, verändern sich auch die Wege zur Entwaffnung. Wer auch immer bedankt wird – dieser Dank enthält ein Geständnis: Der Krieg ist keine Lösung.
Jedes Wort, das heute Bahçeli ausspricht, prägt nicht nur die MHP, sondern auch das kollektive Gedächtnis der Allianz mit der AKP. Der Dank an Öcalan – so strategisch er auch gemeint sein mag – ist kein gewöhnliches Manöver. Es ist eine stille Überprüfung von vier Jahrzehnten Sicherheitspolitik.
Wenn ein Staat den Krieg, den er im Namen des Schutzes seines Volkes begonnen hat, nun im Namen der Zukunft dieses Volkes beenden will, stellt sich die große Frage: Wie wird dieser Wandel der Gesellschaft erklärt? Genau hier kommt Bahçelis „Dankessprache“ ins Spiel: Der nationalistische Diskurs versucht erstmals, den Frieden für sich zu reklamieren. Denn Frieden ist nicht länger ein Zeichen von Schwäche – sondern eine Notwendigkeit.
Auch das Timing dieser Aussagen ist bemerkenswert: Wirtschaftskrise, Flüchtlingsproblematik, gesellschaftliche Spannungen, internationaler Druck… All das könnte die Regierung zu einer weicheren, inklusiveren Sprache gezwungen haben. Doch unabhängig von den Gründen ist das Entscheidende: Während die Waffen sprachen, hat niemand gewonnen. Weder das kurdische Volk noch der türkische Staat, noch die Millionen Menschen auf diesen Böden. Nun versuchen dieselben Akteure, das Ende eines verlorenen Krieges als Erfolg zu verkaufen. Das ist kein Widerspruch – das ist Politik.
Frieden war in dieser Region stets das erste Wort, das ausgesprochen, aber das letzte, an das geglaubt wurde. Alle reden über ihn, doch niemand will seine Last tragen. Deshalb ist Frieden nicht nur das Schweigen der Waffen, sondern auch der Wandel der Worte, Begriffe und Denkweisen.
Bahçelis Dank an Öcalan ist in diesem Sinne ein Bruch mit bekannten Denkmustern. Vielleicht keine Kapitulation – aber definitiv ein Eingeständnis: Dieses Land kann nicht länger mit Blut überleben.
Doch eines darf nicht vergessen werden: Frieden beginnt nicht am Tisch der Führer, sondern im Herzen der Menschen. Und damit er dort wachsen kann, braucht es nicht nur Aufrichtigkeit, sondern auch Erinnerung.
Wir haben in diesem Land vieles vergessen – und vieles wurde uns mit Gewalt aus dem Gedächtnis gerissen.
Jetzt ist es Zeit, sich zu erinnern: Wo haben wir dem Frieden widersprochen? Wann haben wir ihm keine Chance gegeben? In welche Parolen haben wir uns eingesperrt?
Vielleicht ist dieser Dank der erste kleine, aber historisch bedeutsame Schritt einer überfälligen Auseinandersetzung.
Frieden ist auch das Recht derer, die zu spät kommen. Wenn er denn diesmal bleibt.
Die Bedeutung von „Virgül“ und des Friedens
Gleichzeitig möchte ich betonen, wie wichtig dieser Frieden für Virgül ist. Denn Kreise, die sich an den oppositionellen Berichten von Virgül stören oder das Medium als Konkurrenz betrachten, haben es vorgezogen, statt mit Argumenten zu kontern, den einfachen Weg zu gehen: Sie versuchten, sich durch die Diffamierung als „PKK-nah“ einen Vorteil zu verschaffen.
Nun frage ich mich: Welche Argumente werden jene anführen, die ihre eigene Unzulänglichkeit bisher mit Verleumdung und Diffamierung zu kaschieren versuchten – angesichts dieses Dankes?